Corona wird auch für die Künstliche Intelligenz ein weltweiter Supertest. Während die jahrelangen Investitionen Chinas in KI-basierte Technologien sich gerade jetzt in entscheidendem Maße auszahlen, fallen die europäischen Staaten weit zurück – was nicht zuletzt in den Diskrepanzen völlig unterschiedlicher Regimes begründet ist. China wartet als Antwort auf die Krise mit Technologien wie einem Linearfold-Algorithmus zur sekundenschnellen Bestimmung der Sekundärstruktur der Virus oder kontaktloser Multipersonen-Temperaturkontrolle durch Infrarotsensoren auf Bahnhöfen auf. Hat Europa überhaupt noch eine Chance, diesen Vorsprung aufzuholen?
Wir haben Dr. Philipp Gerbert, Future Shaper bei UnternehmerTUM und Director bei appliedAI, dazu befragt:
1. Aus Europa kamen bislang keine signifikanten KI-basierten Technologien, um der Corona-Krise entgegenzuwirken. Woran liegt das?
Das liegt vor allem an zwei Dingen: Zum einen liegen wir in den KI-Anwendungen in Europa allgemein weit zurück. Zudem sind wir bei der Regulierung von Daten und Technologien immer noch risikogetrieben. Vor hundert Jahren hätte eine solche Einstellung die Einführung des Autos wegen möglicher Verkehrsunfälle verhindert, selbst wenn noch mehr Leute vom Pferd gefallen wären. Wir sollten immer Chancen und Risiken betrachten – es gibt keinen risikofreien Fortschritt. Die Krise zeigt, dass ein Technologierückstand in einer Krise auch Menschenleben kostet. Das führt hoffentlich zum Umdenken.
2. Wenn man erste Prognosen wagt: Wird die Corona-Krise den KI-Fortschritt in Europa eher stärken oder schwächen?
Die einfache Antwort ist: Die sicherste Methode, die Zukunft zu prognostizieren, ist sie zu gestalten. Natürlich hat Corona Anstöße zur Beschleunigung gegeben – beispielsweise hätte man sich eine bessere Werbung für automatisierten Remote Service gar nicht vorstellen können. Die eigentliche Frage ist jedoch: Können wir in der Umsetzung diesmal schneller sein als die anderen? Unsere Partnerunternehmen haben uns klar signalisiert: Sie erwarten von appliedAI, genau hier die entscheidenden Impulse zu setzen und die Wirtschaft zu unterstützen – Großunternehmen, Mittelstand und Start-ups. Und genau das machen wir in unserer täglichen Arbeit, jetzt mit doppelter Kraft.
3. Was können deutsche Unternehmen aus dieser Krise lernen?
Wir können uns nicht auf globale Lieferketten verlassen – wir müssen lokaler werden. In einem Hochkostenland verlangt das intelligente Automatisierung. Damit werden Lohnkostennachteile nivelliert. Mit mehr datenbasierten Systemen hätten wir die Krise intelligenter bewältigen können. Nochmals können wir uns einen Shut-Down nicht leisten – das nächste Mal müssen Datenerfassung, Prognose, intelligente Automatisierung und mehr ab Tag eins – oder noch besser vorher als Frühwarnsystem – funktionieren.
4. Was ratet ihr von appliedAI Firmen, die mit KI zum aktuellen Zeitpunkt noch am Anfang stehen?
Von den Besten lernen. Eine wichtige Erkenntnis ist: “Die Zukunft ist bereits da – sie ist nur nicht gleich verteilt”. Corona zeigt, wie viel wir schon von Teilen Asiens lernen können. Außerdem: Eine “Gunst des Spätgeborenen” zu suchen, indem man den Fortschritt bei KI zum Sprung auf die nächste Welle nutzt.
5. Wie können sich Unternehmen mit KI-Systemen zukünftig gegen Krisen rüsten?
KI-Systeme sind natürlich keine Wunderwaffe. Aber sie können helfen. Einige Themen, wie Automatisierung, lokale Lieferketten und “Action at a Distance” habe ich bereits erwähnt.
Zusätzlich kommt: Schnellere Szenarienanalyse, Prognose und Umstellung. Beispielsweise mussten sich Teile der Prozessindustrie auf völlig neue Nachfrageverhalten und Rohstoffpreise einstellen – eine solche komplexe Neuoptimierung von Anlagen kann KI blitzschnell ermitteln und umsetzen. Diese Geschwindigkeit in einer komplexen Welt werden wir zunehmend brauchen, gerade bei solch schlagartigen Veränderungen.
Vielen Dank für das Interview!
Dr. Philipp Gerbert war auch zum Thema "Corona – an inflection point for AI@scale?" als Speaker in unserer U Talk-Reihe eingeladen. Hier geht's zum Video!